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Stilpluralismus am Naschmarkt - Bauten an der Linken und Rechten Wienzeile

In Fortsetzung des letzten Blogs sollen auch die weiteren Objekte dieser großstädtischen Verbauung um 1900 Würdigung erfahren. Ursprünglich waren die Häuser der Linken und Rechten Wienzeile als flankierende Bauten für einen Prachtboulevard gedacht, der vom Karlsplatz zur kaiserlichen Sommerresidenz Schloss Schönbrunn führen sollte. Otto Wagner hatte 1895-1898 die Stadtbahn geplant, Stadtbaudirektor Franz Berger die Regulierung des Wienflusses und seine Überwölbung zwischen Karlsplatz und Schönbrunn geleitet. Das städtebauliche Hoffnungsgebiet wurde zwischen den 189oer Jahren und 1916 zum Schauplatz bürgerlicher Repräsentationsfreude, die sich in der Errichtung großzügig dimensionierter Bauten äußerte - aufgrund des weiten Freiraums zwischen den beiden Zeilen mit reicher Fassadengestaltung.

Die bemerkenswerten Häuser von Otto Wagner werden von zwei fast gleichzeitig errichteten Bauten in neobarocker Spielart des Späthistorismus, dem Spätstil der Ringstraßenepoche, flankiert:







Zur Rechten findet sich das monumentale Palais des Textilfabrikanten Leon von Wernburg (Linke Wienzeile Nr. 36) von Franz Ritter von Neumann, Schöpfer des so genannten Semmeringstils, zur Linken (Linke Wienzeile 42) der extravagante, einst sogar mit einer Kuppelbekrönung versehene Bau des eher durch seine Grönland-Expeditionen bekannten Rudolf Kmunke. Spätestens seit den 1880er Jahren galt der Barockstil als der „übernationale Stil“, der am ehesten der ethnischen Vielfalt des österreichischen Kaiserreichs entspreche. Auch der städtebaulich den Naschmarkt begrenzende Bau Magdalenenstraße 1 von Baumeister Julius Nell 1907 – laut Dehio - „in städtebaulich exponierter Lage“ errichtet, weist eine reich gegliederte Schaufront in barockisierenden Formen mit secessionistischen Einsprengseln auf.


Stildebatten der Gründerzeit wurden weltanschaulich geführt: So galt die altdeutsche Renaissance ab 1871 als Reichsstil des jungen deutschen Kaiserreichs und kam in Wien seltener zur Anwendung, etwa beim Renaissance-Hof (Linke Wienzeile 56) mit seinen malerisch angeordneten Balkonen, Loggien und Giebeln, 1901 von Architekt Jakob Modern errichtet, und dem gegenüberliegenden markanten Eckbau (Rechte Wienzeile 49/Hamburgerstr. 2), 1902 von den Architekten Adolf Oberländer und Rudolf Krauss geplant.




Bei diesen Häusern in Formen der nordischen Renaissance kann vermutet werden, dass die Bauherren mit großdeutscher Gesinnung zumindest sympathisierten.


Vergleichsweise modern wirkt schon eher die Versicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahner (Linke Wienzeile 48-52), ein 1910-1912 von Franz und Hubert Gessner errichteter Monumentalbau in neoklassischen Formen mit den wuchtigen Skulpturen Anton Hanaks. Hubert Gessner sollte als „Hausarchitekt“ des „Roten Wien“ einige „Superblock-Gemeindebauten“ errichten.


Zierlich, fast biedermeierlich mit gefälligem plastischem Dekor wirkt dagegen das wenig später gebauten Wohnhaus „Vier Jahreszeiten“ von Baumeister Julius Hecht.


Wie eine schmale Baulücke auf das Eleganteste geschlossen werden kann, demonstriert das Wohnhaus (Rechte Wienzeile 55) von Hermann Stierlin 1902 für seine Ehefrau: Der gebürtige Schweizer, der auch die Berggasse 19 geplant hatte, wo Sigmund Freud ordinierte, gestaltete hier eine Fassade in den abwechslungsreichen Formen des belgischen Art Nouveau!


Flächig flimmernden Dekor des Secessionismus weist ganz zeitgemäß das Miethaus Rechte Wienzeile 59 auf, 1899 von Josef Drexler für den Bauherrn Ludwig Böck errichtet.


Dem nun modernen Secessionismus ergeben zeigt sich auch der Boulevard-Hof (Linke Wienzeile 60), der 1902 von Architekt Ely Wasserstrom gebaut wurde. Der Fassadendekor mit pflanzlichem Lineament, Wellenmotiven, Girlanden u.ä. fand schnell Eingang in den Formenkanon späthistoristischer Fassadengestaltung.



Nach Westen wird der Naschmarktparkplatz an der Rechten Wienzeile von zwei ikonischen Bauten des Wiener Jugendstils abgegrenzt: Dem Miethaus Langer, 1901/02 von Josef Plecnik, dem wichtigsten Schüler Otto Wagners, und dem 1902 von Oskar Marmorek errichteten Rüdigerhof.



Daneben finden sich mit der Rechten Wienzeile 53 (der sog. Hanna-Hof, 1899 von Architekt Karl Steinhofer für Alfred Viktorin) und der Rechten Wienzeile 57 (1898 von Anton Krones, Architekt und Schüler Otto Wagners), Bauten, die Fassaden im charakteristischen seit 1860 als „Wiener Stil“ gepflegten Neorenaissancestil aufweisen. Der einstige Repräsentationsstil des liberalen, oftmals jüdischen Großbürgertums hat viele Palais an der Ringstraße geprägt.



Die Vielfalt der Stile an der Rechten und Linken Wienzeile regt zum Schauen, auch zum Nachdenken an – sämtliche Bauten des projektierten Prachtboulevards haben Aufmerksamkeit und Beschäftigung mit den Planern und den Intentionen der Bauherren verdient. 50 Jahre nach Renate Wagner-Riegers monumentalem Forschungswerk „Die Wiener Ringstraße“ und 25 Jahre nach der großen, von Hermann Fillitz kuratierten Historismus-Ausstellung „Der Traum vom Glück“ scheint es erstaunlich, wenn ein, am Wiener Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien Lehrender in einem Leserbrief im Falter 30/21 in Reaktion auf Birgit Wittstock, „Alle gegen Halle“ (Falter 29/21) vom „gleichzeitigen Kitsch“ spricht, der die Sonderstellung der Wagner-Schule erfahrbar mache.

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