„Der Großstädter bedarf ... der reinen Landluft zur Erhaltung und Stärkung seiner Gesundheit“*
Urkunden belegen bereits Anfang des 13. Jahrhunderts Mühlen am Wienfluss, im 17. Jahrhundert wurden 32 Mühlenstandorte gezählt. Ab 1850 wurde der Wienfluss im Stadtbereich baulich gefasst und vielerorts das Mühlengewerbe stillgelegt. Mit dem großen Regulierungsprojekt des Fin de Siécle endeten die gewerbliche Nutzung und andere Formen der Wassernutzung wie sie den Alltag am Wienfluss über Jahrhunderte geprägt hatten. Lediglich Straßenamen und Flurbezeichnungen erinnern noch an die malerischen Ufer eines ungebändigten Flusses.
Emil Winkler konstatiert 1873 im „Technischen Führer durch Wien“: „In allerneuester Zeit ist die Wienflussfrage mehr als je Gegenstand ernsten Studiums geworden ... Man darf jetzt wohl die Hoffnung haben, dass eine Entscheidung über das künftige Schicksal des Wienflusses nicht mehr lange auf sich waren lasse.“ Ernsthaft diskutiert wurde in der rasch wachsenden Großstadt etwa die „gänzliche Entfernung des Wienflusses und Nutzbarmachung der hierdurch zu gewinnenden Area“. In den folgenden Jahrzehnten sollten sich Spekulanten, Stadtplaner und Ingenieure intensiv mit diesem Stadtraum und Themen wie Landnutzung und Landbedeckung, Niederschlagsmuster, maximalen Abflussmengen, der Dimensionierung von Retentionsbecken u.ä. befassen. Die technische Pionierleistung, einen Fluss von 17 km Länge, 8 km im Stadtgebiet, zu regulieren und funktionell neu zu gestalten, sollte zu einem 50 Millionen Kronen teurem, von Staat, Land Niederösterreich und Gemeinde Wien getragenem Großprojekt werden. Dazu kam die Errichtung der Stadtbahn entlang des Wientals mit Kosten von 46 Millionen Kronen – die bauliche Umgestaltung sollte damit fast 100 Mio. Kronen ausmachen! In etwa würde das heute die durchaus bemerkenswerte Summe von 400-500 Mio. Euro ausmachen.
Urbanistisches Kernstück des 1894-1906 realisierten Regulierungsprojekts wurde die 6,8 km lange Strecke von der ursprünglich auch als repräsentatives Portal gestaltete Kennedybrücke bis zum Wienflussportal im Stadtpark. Dieser Bereich wurde so gestaltet, dass eine Einwölbung „nach Maßgabe der vorhandenen Geldmittel und des Bedürfnisses“ (Stadtbauinspektor Martin Paul 1905 über die Wienflussregulierung) jederzeit möglich wurde. Sukzessive verschwand der Wienfluss unter der Überdeckung. Gemäß dem Regulierungskonzept wurden seither rund 45 % dieser innerstädtischen Flächenreserve etwa für die Errichtung des Naschmarkts, des Verkehrsbüros sowie für den (öffentlichen) Verkehr genutzt.
Mit der Verbreiterung der alten Ufergassen zur Linken und zur Rechten Wienzeile änderte sich auch die Stadtlandschaft, die sich an den neuangelegten Boulevards zunehmend verdichtete und zum Schauplatz aufwendig gestalteter Bebauung wurde. In seinem eingedeckten Abschnitt wurde das Wiental zur großstädtischen Bühne, gar zur Prachtstraße repräsentativer Häuserfronten, an der Linken Wienzeile mit dem Ruferinnenhaus und dem Majolikahaus von Otto Wagner, dem palastartigen Versicherungsbau von Hubert Gessner, dem Boulevard-Hof von Ely Wasserstrom sowie dem repräsentativen Kopfbau von Baumeister Julius Nell, an der Rechten Wienzeile mit dem Mietshaus Langer von Jose Plecnik, dem Rüdigerhof von Oskar Marmorek, usw. Mit dem autogerechten Ausbau des Wientals in der Nachkriegszeit wurde das Wiental zur Verkehrsschneise degradiert, wo sich Freitag abends der Verkehr stadtauswärts, am Sonnabend in die Gegenrichtung staut.
Heute stellt das Wiental eine der wichtigsten Freiraumreserven der Stadt dar. Aufgrund der Regulierung des Flusses und der stadtplanerischen Orientierung an den Bedürfnissen des motorisierten Verkehrs sind die Möglichkeiten jedoch eingeschränkt: Eine gelungene kleinmaßstäbliche Intervention stellt etwa die 2015 eröffnete Wientalterrasse in Margareten dar.
Daher fordert die BI „Freiraum Naschmarkt“ für den 12.000 m2 großen Naschmarktparkplatz die Errichtung eines großräumigen innerstädtischen Naherholungsgebiets mit Schaffung von Grünflächen mit Aufenthaltsqualität, natürlichen Beschattungsmöglichkeiten und ohne Konsumzwang.
*Aus einer Werbeschrift des „Zentral-Ausschusses des Wienthal-Vereines“
Der Blog beruht im Wesentlichen auf dem Beitrag von Friedrich Hauer, Gezählt, gewogen, geteilt. Stadtumbau am Wienfluss seit 1894, in: Zentrum für Umweltgeschichte, Hrsg. (2019): Wasser Stadt Wien. Eine Umweltgeschichte. Universität für Bodenkultur Wien, Technische Universität Wien, Wien 2019
Friedrich Hauer, Stadtforscher und Umwelthistoriker, RU Wien, Institut für Städtebau, erörterte gemeinsam mit dem Architekturhistoriker Rainald Franz am 2. Juli 2021 im Rahmen der von der ÖGFA (Österreichische Gesellschaft für Architektur) veranstalteten Stadtdiskursvisite Stadtraum Wiental. Von Schönbrunn bis zum Naschmarkt stadt- und architekturhistorische sowie infrastrukturelle Hintergründe: vom Flusstal zu Otto Wagners „Zeile“ und zum Verkehrsband mit Freiraumpotential. Diese Stadtdiskursvisite kam auf Initiative des BI-Mitglieds Rainald Franz zustande.
Abbildungen Copyright MAK, BI, anno.onb.ac.at
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